... aus der Presse
und für Sie zur Diskussion gestellt:

Schwäbisches Tagblatt/Südwestpresse,
Samstag, 8. Dezember 2007, S. 34.

"Möge dieselbe ihr Gotteshaus in Frieden und Freude für alle Zeiten benützen können!"
Mit diesem Wunsch an die israelitische Gemeinde Tübingens schloss vor 125 Jahren ein Zeitungsartikel in der "Tübinger Chronik", in dem über die Einweihung der Synagoge in der Gartenstraße berichtet wurde.

Frieden und Freude
nur für kurze Zeit

Heute vor 125 Jahren weihte die Tübinger jüdische Gemeinde in der Gartenstraße ihre Synagoge / Von Hans-Joachim Lang

Ein Festzug, der sich an der Tübinger Neckarmüllerei formiert hatte, setzte sich am 8. Dezember 1882, einem Freitag, nachmittags um 15 Uhr in Bewegung. Vorneweg lief die jüdische Schuljugend, es folgten die Thora-Träger, der Rabbiner und der Kirchenvorsteher, der Vertreter der israelitischen Oberkirchenbehörde in Stuttgart, der Landrat und der Oberbürgermeister (damals Oberamtmann und Stadtschultheiß genannt), die Mehrzahl der Gemeinderatsmitglieder, die evangelischen Geistlichen (ihr katholischer Amtsbruder fehlte entschuldigt), der Rektor der Realschule, die Bauleitung und sonstige geladene Gäste. Gemeinsam zogen sie die paar hundert Meter Gartenstraße stadtauswärts bis zur Synagoge, wo ein Musikkorps wartete und, als die Gemeinde in Sichtweite kam, den Choral anstimmte: "Das ist der Tag des Herrn!"

An hohen Feiertagen

Bis dahin noch nie, und wohl danach nie wieder zeigten sich die Tübinger Juden als geschlossene Gruppe in der Öffentlichkeit. Ihre Gemeinde, zu der auch Mitglieder aus Reutlingen und Rottenburg gehörten, verhielt sich eher unauffällig, betrachtete Religion weitgehend als Privatangelegenheit. Die Synagoge bedeutete zwar einen Bezugsort für die jüdische Identität, doch den meisten genügte diese Vergewisserung an den hohen Feiertagen.
Nach der Vertreibung durch Graf Eberhard anlässlich der Universitätsgründung im Jahr 1477 kamen anfangs des 19. Jahrhunderts die ersten wenigen jüdischen Studenten und Wissenschaftler an die Universität. Wer kein Akademiker war und Stadtbürger werden wollte, musste sich noch bis zur Jahrhundertmitte hinhalten lassen und war auch erst dann geduldet, nachdem Leopold Hirsch aus Wankheim einen mehrere Monate währenden Rechtsstreit gegen die Stadt Tübingen gewonnen hatte. Ihm waren seine zahlreichen Familienangehörigen, nach und nach die übrigen jüdischen Wankheimer gefolgt. Ihre 1835 errichtete Synagoge hatten sie zwar nicht mitnehmen können, aber sie hatten sie abgebrochen und die Steine im Tübinger Neubau einfügen lassen.
Bescheiden wie schon ihre Wankheimer Vorgängerin war auch die Tübinger Synagoge geraten. Das einstöckige, von einem Walmdach bedeckte Gebäude maß 14 auf 9 Meter Grundfläche. Man betrat es von Westen her, eine Treppe führte vom Vorraum hoch zur Empore. Unten rechts gelangte man in ein Zimmer, das für den Religionsunterricht genutzt werden konnte, und geradeaus in den von acht hohen Bogenfenstern erhellten, 100 Quadratmeter großen Betraum. Beim Eintreten lief man direkt auf den Thoraschrein zu, hinter dessen Vorhang die Thora-Rollen lagen. Vor dem Schrein stand ein Pult für den Vorbeter .

Am Nachmittag des 8. Dezember 1882 begrüßte Bezirksrabbiner Michael Silberstein nach dem Choral die Festgäste, die Frauen nahmen auf der Empore Platz, die Männer im Parterre. Silberstein betete: "Segne diese Stadt und ihre Bewohner. Lass den Geist des Wohlwollens, der Zuneigung gegen uns niemals unter ihnen vermisset werden, wie auch wir sie alle als Deine Kinder, als unsere Brüder erkennen und lieben."
Man wird diese Sätze nicht mehr lesen können, ohne die Geschichte von ihrem Ende her zu denken, im Wissen um das Schicksal der Synagoge wie auch jener Tübinger Juden, deren Mitbürger es bald an dem erbetenen Geist des Wohlwollens und der Zuneigung fehlen ließen. Gerührt liest man in einem Artikeln der "Tübinger Chronik" über die Einweihungsfeier und das anschließende Essen im Museumssaal: "Die heitere Stimmung, welche alle Theilnehmer beherrschte, gestaltete den Abend zu einem Feste, wie solches kaum schöner gedacht werden konnte", schwärmte der Berichterstatter und endete: "Mit Freuden kann die isr. Gemeinde auf dieses Fest, das von Anfang bis zu Ende zur vollsten Befriedigung verlief, zurückblicken. Möge dieselbe ihr Gotteshaus in Frieden und in Freude für alle Zeiten benützen können!"

"Sind damit beendet"

Für alle Zeiten! Nur wenig mehr als ein halbes Jahrhundert später war die Freude - buchstäblich - verraucht, und der Friede dahin. In einem 1939 in den "Blättern des Schwäbischen Albvereins" veröffentlichten Beitrag zur "Ausschaltung der Juden" kann man unter anderem lesen: "Das Jahr hat uns auch in der Judenfrage um ein bedeutendes Stück vorwärts gebracht. (...) Als Antwort auf die notwendige streng legale deutsche Judenpolitik leistete sich das Weltjudentum durch die Ermordung des deutschen Diplomaten von Rath in Paris eine ungeheure Provokation. Deutschland war nun gezwungen, die Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft sofort und kompromißlos durchzuführen. Jegliche wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Juden und Deutschen sind damit beendet. (...) Dem deutschen Volk kann nicht zugemutet werden, mit dieser Rasse weiter zusammenzuleben."
Verfasst hat diese Kampfansage der Journalist Josef Forderer. Studierende eines im zurückliegenden Sommersemester an der Eberhard-Karls-Universität veranstalteten Hauptseminars "Landesgeschichte und Nationalsozialismus" haben ihn jetzt posthum entnazifiziert. In einem Beitrag der soeben erschienenen "Tübinger Blätter" bescheinigen sie Forderer nach 1933 ein "Verhalten, das zwischen innerer Emigration und passivem Widerstand schwankte".
Zwar war Forderer Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei und 13 Jahre Chefredakteur der "Tübinger Chronik", den die Nazis nach dem Machtwechsel 1933 zum normalen Redakteur degradierten. Aber was er danach veröffentlichte, lässt den Ort seiner inneren Emigration als einen ziemlich braunen Hort erscheinen. Als erster Chefredakteur des im Herbst 1945 als Nachfolge-Organ der "Tübinger Chronik" gegründeten SCHWÄBISCIIEN TAGBLATTs konnte er nur kurz darüber hinwegtäuschen. Die Franzosen entließen ihn nach wenigen Monaten wegen seines Verhaltens in der NS-Zeit - ausdrücklich mit Hinweis auf den oben zitierten Aufsatz sowie auf seine Tätigkeit in den letzten Kriegsjahren als Chefredakteur in Tuttlingen. Zudem verantwortete Forderer als Herausgeber der "Tübinger Blätter" bis 1939 Aufsätze von Thomas Miller, der sich im Schein wissenschaftlicher Erkenntnis als einer der schärfsten Antisemiten unter den württembergischen Landeshistorikern profilierte.
Die schlichte, von der Baulinie der Gartenstraße um ein paar Meter zu-rückgesetzte Synagoge gab allenfalls durch die orientalisch wirkende Fassade einen besonderen Akzent. Im Stadtbild insgesamt fiel sie so wenig auf, dass unter den vielen tausend Ansichtskartenmotiven der Verlage Metz, Sting und Mauthe nicht eines bekannt ist, das die Synagoge zeigt. Ähnlich zurückhaltend gestaltete sich auch das religiöse Leben der Tübinger Juden. Kaum jemandem dürfte aufgefallen sein, dass etwa Albert Weil, von 1903 bis 1930 in der Uhlandstraße 2 der Verleger der "Tübinger Chronik", am Sabbat in der Regel nicht in den Geschäftsräumen auftauchte. Nur selten wurde in einer Kleinanzeige der Kundschaft mitgeteilt, dass "infolge hohen Feiertags" an einem Herbst-Samstag ein Textilgeschäft geschlossen blieb - wegen Jom Kippur, des jüdischen Versöhnungsfestes.

Öffentlich heruntergespielt

Von einem offen antisemitischen Klima wie in vielen Großstädten spürte man in Tübingen in den 1920-er Jahren wenig. Hier mal eine böse Bemerkung auf der Straße, dort eine in einer Vorlesung an der Universität. Zu den Ausnahmen, die aber öffentlich heruntergespielt wurden, zählt ein Steinwurf, über den die "Chronik" ausschließlich durch einen betont sarkastisch formulierten Leserbrief - Oberschrift: "Völkische Heldentat" - am 19. Januar 1928 berichtete: "Vor 8 Tagen hat ein Führer von Deutschlands "Rettungs-Garde", der Landtagsabgeordnete Mergenthaler, seine Mannen in einer hiesigen Versammlung um sich geschart und schon ist eine große Heldentat zu Deutschlands Rettung geschehen: Ohne jeden Verlust, ja ohne erkannt zu wer-den, gelang es einer kühnen Schar völkischer Jünglinge, die hiesige Synagoge in später, dunkler Mitternachtsstunde wirkungsvoll zu bombardieren. Fenster klirrten, Stühle krachten bei dem Anprall gewaltiger Steinmassen, und in kurzer Zeit war die Synagoge mit Trümmern und Deutschlands Name mit Ruhm bedeckt. Heil!"
Tatsächlich waren in der Synagoge zwei Scheiben eingeworfen worden. Da sie nicht .täglich geöffnet war, konnte der genaue Zeitpunkt nicht mehr festgestellt werden. Die Steine wogen mehrere Pfund, einer hatte das Rohrgeflecht eines Stuhls durchschlagen. Die Schäden blieben in Grenzen, die Verursacher von der Kripo unentdeckt. In Tatverdacht blieben Teilnehmer einer Veranstaltung mit dem Nazi-Funktionär Christian Mergenthaler, der in dieser Zeit als aggressiver Antisemit auftrat.
Immerhin, Oberbürgermeister Adolf Scheef zeigte Anteilnahme. An Alfred Wochenmark von der jüdischen Gemeinde schrieb er: "Die Nachricht von der Beschädigung der Synagoge hat mich tief betrübt. Es ist empörend, dass immer wieder solche Rohheiten vorkommen."
Scheef, wie Forderer vor 1933 Mitglied der Deutschen Demokraten, durfte das Amt des Oberbürgermeisters bis 1939 ausüben und wurde, als er in Ruhestand trat, von den Nazis mit der Ehrenbürgerwürde ausgezeichnet. Von einer ähnlichen Anteilnahme wie zehn Jahre zuvor ist nichts bekannt geworden, als im November 1938 die Synagoge nicht nur beschädigt, sondern niedergebrannt wurde.
In der Nacht zum 10. November machten sich an der Synagoge unabhängig voneinander zwei Gruppen zu schaffen. Als erste warfen kurz vor Mitternacht je acht Männer in SA- und in SS-Uniformen Fenster ein, brachen die Tür auf, demolierten den Betsaal und trugen Kultgegenstände hinaus, die sie in den Neckar warfen. Wer daran beteiligt war, ist nie geklärt worden. Auch nicht, was aus den versenkten Gegenständen wurde. Die Justiz ging nur gegen die Brandstifter vor. Hauptangeklagter war NSDAP-Kreisleiter Hans Rauschnabel, der den Befehl in den ersten Morgenstunden des 10. November an drei Parteimitglieder weitergegeben hatte und auch darauf achtete, dass die verspätet alarmierte Feuerwehr nur die Nachbargebäude schützte. Ihn verurteilte das Tübinger Schwurgericht zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus, die drei Zündler zu einer Zuchthausstrafe von einem Jahr und acht Monaten.

Drei Wochen nach der reichsweiten Pogromnacht stand am Brandort kein Stein mehr aufeinander. Gegen Höchstgebot hatte die Stadt alles noch brauchbare Baumaterial an interessierte Tübinger und Lustnauer versteigert, darunter 2500 Ziegelsteine. Den verbliebenen Schutt schafften Arbeiter des Tiefbauamt in sieben Lastwagen-Fuhren ins alte Neckarbett bei Lustnau, anschließend ebneten sie den Brandplatz ein.
"Von einer Entrüstung der christlichen Mitbürger, auch nicht ihrer Geistlichen, habe ich nichts gehört", schreibt Simon Hayum in seinen Erinnerungen. Gleich am 10. November sei ein Lustnauer beim Synagogenvorsteher Jacob Oppenheim er-schienen mit dem Wunsch, das Grundstück kaufen und darauf ein Wohnhaus errichten zu wollen. In ganz Deutschland wurden willkürlich Juden verhaftet, in Tübingen die beiden Kaufleute Leopold Hirsch und Albert Schäfer, der Bankangestellte Hans Spiro, der Lehrer Fritz Erlanger und der Religionslehrer Josef Zivi. Alle fünf verschleppte die Gestapo ins KZ Dachau, wo sie einige Wochen festgehalten wurden. Jacob Oppenheim hat sie ebenfalls verhaftet, in Stuttgart mehrmals verhört und dann wieder freigelassen. Bei Zivi und Hayum wurden Unterlagen der jüdischen Gemeinde und des Centralvereins der Staatsbürger jüdischen Glaubens beschlagnahmt.

Schweren Herzens

Die erstrebte Wirkung, so Hayum, war mit dieser Gewaltaktion erreicht: "Kaum eine jüdische Familie war von ihr verschont geblieben. Angst um die in die Konzentrationslager geschleppten und dort in rohester, brutalster, feig-sadistischer Weise gequälten, vom Verkehr mit den Ihrigen abgeschlossenen Männer, die Ungewissheit um die nächste und weitere Zukunft hatte die jüdische Welt in Deutschland in einer schwer zu schildernden Weise und Umfang erfasst." Wer die Möglichkeit hatte, zu emigrieren, entschloss sich schweren Herzens. Wer blieb, wurde fast ausnahmslos in einem der Vernichtungslager ermordet.
40 Jahre lang erinnerte in der Gartenstraße nicht ein Buchstabe an die ehemalige Synagoge. Als 1958 der Gemeinderat darüber diskutierte, ob nicht eine städtische Gedenkfeier am 9. November angemessen wäre, hatte, ausweislich des Protokolls, CDU-Fraktionsvorsitzender Gerd Weng in seiner unnachahmlichen Art argumentiert: "Die Vertreter der öffentlichen Ordnung (...) seien mit diesen kollektiven Schicksalsproblemen des Jahrhunderts überfordert, da es sich um historische, rechtliche, theologische und philologische Probleme handle, die nicht in Jahrzehnten, vor allem nicht in kleinen Fraktionen, behandelt, gelöst oder wenigstens gelindert werden könnten."
Dank verschiedener privater Initiativen gibt es einen Synagogenplatz, wo seit 29 Jahren wenigstens erinnert wird, was an diesem Platz fehlt und seit neun Jahren auch, warum. Am heutigen Samstag wird erstmals seit 1932 von einem Tübinger jüdischen Verein an die Einweihung der alten Synagoge gedacht. Darin liegt viel Wehmut und Trauer, aber auch Hoffnung für die Zukunf


Schwäbisches Tagblatt/Südwestpresse,
Samstag, 10. Dezember 2007, S. 25:

Sechs Kerzen
zum 125. Jahrestag der Synagoge

Erstmals nach einem Dreiviertel-Jahrhundert wurde am vergangenen Samstag in der T ü b i n g e r Gartenstraße wieder der feierlichen Einweihung der alten Synagoge vor genau 125 Jahren gedacht. Allerdings nur im kleinen Kreis: Neben OB Boris Palmer und Kulturamtsleiter Wilfried Setzler waren nur Daniel Felder (Mitte) und Marion Schubert (links) vom jüdischen Verein Bustau Shalom sowie der evangelische Pfarrer Michael Volkmann (rechts) gekommen, um sich den 8. Dezember 1882 in Erinnerung zu rufen. Es war ein guter Tag in der Geschichte Tübingens. Damals war die halbe Stadt auf den Beinen, als die jüdische Gemeinde ihr schlichtes Gotteshaus in der Gartenstraße in Besitz nahm (siehe dazu die Sonderseite in unserer Samstagsausgabe). Doch auch bei der Rückschau auf dieses einträchtig gefeierte Jubelfest drängte sich der mörderische Ausgang der Geschichte, der Holocaust, schnell in den Vordergrund. Dessen Opfer war denn auch der Festakt zum 125. Jahrestag der Synagogen-Einweihung gewidmet. Boris Palmer und seine vier Begleiter entzündeten sechs Kerzen am Synagogen-Denkmal. Sie standen symbolisch für die sechs Millionen Juden, die dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer fielen.

sep / Bild: Mozer


Schwäbisches Tagblatt/Südwestpresse,
Samstag, 10. Dezember 2007, S. 34:

Es gab auch welche, die halfen

Vortrag über die Geschichte von Pfarrer Richard Gölz, dem Judenretter von Wankheim

Richard Gölz (rechts) traf 1929 den Lambarne-Urwaldarzt Albert Schweitzer, der auch theologische Texte schrieb. Archivbild

KUSTERDINGEN (bei). Der Geschichtsverein Härten erinnerte an einen Wankheimer Helden. In einem Vortrag wurde Richard Gölz gewürdigt, der als Wankheimer Pfarrer während der Nazi-Diktatur untergetauchte Juden versteckte.

Mit Richard Gölz hat Kusterdingen eine echte Lichtgestalt. Am Freitag erinnerte Prof. Josef Seubert im Kusterdinger Gemeindehaus an den Theologen, der 1935 ins Pfarrhaus nach Wankheim kam. Seubert setzte Gölz auf Einladung des Geschichtsvereins ins Verhältnis zum Wirken der evangelischen und katholischen Kirche im Nationalsozialismus und beschrieb ihn als große Ausnahme "in dem Dunkel, das überwog".

Sehr späte Würdigung

Um so erstaunlicher, dass es auch in Kusterdingen so lange gebraucht hat, bis sein Engagement und das seiner Frau Hilde gewürdigt wurde. Erst seit fünf Jahren erinnert ein Brunnen an das Pfarrerpaar, das zwischen 1943 und Ende 1944 einer nicht genau bekannten Zahl unter-getauchter Juden half. Für die späte Würdigung hatte Seubert, selbst Wankheimer und früher Professor an der Pädagogischen Hochschule in Reutlingen, eine einleuchtende Erklärung: "Der Blick wäre in unangenehmer Weise auf das eigene Versagen gelenkt worden."
Gölz war kein unbekannter Dorfpfarrer. Seit 1920 arbeitete er als Musikdirektor an der Tübinger Stiftskirche. 1934 stellte er ein heute noch geläufiges Liederbuch zusammen. Als Teil der Bekennenden Kirche überwarf er sich dann mit der Kirchenleitung und zog sich aufs Dorf zurück. Das Pfarrhaus "war immer voll wie beim Luther" berichten Zeitzeugen über das Haus. Später nutzten er und seine Frau das Ein-und-Aus, um Juden zu verstecken. Sie waren Teil eines recht dichten Netzes von Pfarrhäusern, in denen die Verfolgten unter dem Deckmantel ausgebombt zu sein, versteckt wurden.

Gölz starb 1975 in den USA

Ein Denunziant ließ die Sache auffliegen. Im letzten der beherbergten Juden meinte der, einen Mitattentäter des 20. Juli zu erkennen. Mit seinen gefälschten Papieren konnte der Untergetauchte noch fliehen, aber Gölz wurde Ende 1944 verhaftet und kam nach Welzheim in Gestapo-Haft. Über diese Zeit habe er später nie gesprochen, so Seubert. Offensichtlich waren die Erlebnisse aber verstörend, genauso wie die neuerliche Abweisung der Landeskirche. Gölz wollte in Bebenhausen "eine Art württembergisches Taize einrichten", sagte Seubert. Nach dem Scheitern der Pläne wandte sich Gölz der orthodoxen Kirche zu, konvertierte und emigrierte mit seiner Gemeinde in die USA, wo er 1975 starb. Seine Frau Hilde blieb und lebte bis 1986 im Wankheimer Rathaus. Postum bekamen beide von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad-Vashem den Ehrentitel "Gerechte unter den Völkern" verliehen.
Zum konfessionellen Ausgleich referierte Seubert vor den gut 30 Zuhörenden auch kurz das Leben von Gertrud I,uckner. Die Mitarbeiterin der Freiburger Caritas organisierte für Juden Unterschlupf und Flucht und landete dafür zuletzt im Konzentrationslager Ravensbrück. Sie erlebte es immerhin, 1979 zur Ehrenbürgerin von Freiburg zu werden und auch die Ehrung durch Yad-Vashem. Seit Kurzem ist ein Altenheim im Reutlinger Stadtteil Orschel-Hagen nach ihr benannt.
Seubert ging auch auf das Versagen der großen christlichen Kirchen ein. So zitierte er den Tübinger Theologen Karl Adam, der über "rassefremde Juden" schrieb und seinen evangelischen Kollegen Gerhard Kittel, "der ein assimiliertes Dekadenzjudentum" entdeckte und die rechtliche Gleichstellung ablehnte. Warum die Kirchen erst nach dem Krieg ihre Mitverantwortung für die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden erkannten, streifte Seubert nur.



 

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